„Gespräch der Woche“ im Sonntagsblatt mit Vereinsgründerin Dr. Wiebke Endres 

„Lehrerinnen und Lehrer ohne Grenzen“ möchte vor Ort helfen

Dr. Wiebke Endres gründete den Verein „Lehrerinnen und Lehrer ohne Grenzen“

Wilhelmshaven. Jedes Kind hat ein Recht auf Bildung, bekräftigt Dr. Wiebke Endres, Lehrerin am Neuen Gymnasium Wilhelmshaven und seit sechs Jahren Mitglied der Schulleitung. Dennoch haben laut der Vereinten Nationen 160 Millionen Kinder weltweit keine Chance auf Grundbildung. Um sich auch aktiv für diese Kinder einzusetzen, hat die Pädagogin vor einem Jahr den Verein „Lehrerinnen und Lehrer ohne Grenzen“ gegründet. „Wir waren acht Personen, vier bildeten den Vorstand, es gab Grillwürstchen bei mir im Garten“, erinnert sich Dr. Wiebke Endres. Es sei überwältigend, wie sich der Verein seither entwickelte. Nicht nur, dass es mittlerweile 25 „Lehrerinnen und Lehrer ohne Grenzen“ gibt, die schon 11.000 Euro an Spenden generieren konnten. Unter anderem gab die Pädagogin 5.000 Euro aus dem Klaus-von Klitzing-Preis, den sie gewann, in den Verein. Sie erlebt auch weltweit viele Menschen, die das UN-Kinderrecht auf Bildung wirksam werden lassen. Am Freitag, 13. Mai, lädt „Lehrerinnen und Lehrer ohne Grenzen“ ab 19 Uhr zu einer Benefizveranstaltung mit Lesungen und Musik ins Logenhaus, Rheinstraße 65, ein. Und der nächste Termin steht auch schon: Freitag, 15. Juli, gibt es bei Dr. Wiebke Endres Kultur im Garten.

Weltweites Netzwerk

„Unterrichten ist Berufung für mich“, sagt die Pädagogin, „wir arbeiten mit dem Kostbarsten, was wir haben, es ist toll, ein Stück weit Teil des Lebensweges der Kinder zu sein“. Und noch nie habe sie eine so erfüllende Tätigkeit erlebt wie in diesem Verein, den sie sich quasi zu ihrem runden Geburtstag schenkte. „Lehrerinnen und Lehrer ohne Grenzen“ soll im Netzwerk der Schulen weltweit der Bildung eine lautere Stimme geben, wünscht sie sich. „Die Zeit zur Vereinsgründung war mehr als reif. Meinen Freunden bin ich dankbar, dass sie meinen Weg mitgehen. Es zeichnet Freunde aus, fürs Gleiche zu brennen“, so die Pädagogin. Und es sei faszinierend, wie unkompliziert sie helfen könnten.

Neurochirurgin als Studienwunsch

Die Tätigkeit ihres Vaters als Vertriebsleiter für Schreibgeräte für Osteuropa brachte schon früh Gäste aus anderen Ländern in ihr Elternhaus, erinnert sich die gebürtige Wilhelmshavenerin. Ihre Eltern gaben ihr viel Raum zum Experimentieren, ließen sie an Bollerwagen, Drachen oder einem ferngesteuerten Boot tüfteln. Ihre Regenwurmzucht sei legendär gewesen, erinnert sich Dr. Wiebke Endres. Als sie 18 Jahre alt war, lag das Mercy-Ship „Anastasia“ in Wilhelmshaven. Die Jugendliche erklärte ihren Eltern, losfahren und helfen zu wollen. „Ich war weltoffen erzogen, hatte aber noch nicht den Mut, mich global zu engagieren“, räumt Dr. Wiebke Endres ein. Nach dem Abitur leistete sie ein dreimonatiges Pflegepraktikum im Reinhard-Nieter-Krankenhaus. „Ich wollte Leben um mich haben, fühlte mich aber hilflos mit den Schicksalsmomenten der Menschen“, sagt sie. Kinder-Neurochirurgin sei ein Studienwunsch gewesen, aber das Leben ging andere Wege. „Etwas mit Gehirnen von Kindern kam ja dabei heraus“, meint die Wilhelmshavenerin schmunzelnd. Ihr Lehramtsstudium führte Dr. Wiebke Endres über Oldenburg, Utrecht, Manchester, Groningen bis nach Boulder in Colorado. In Utrecht hörte Dr. Wiebke Endres einen Vortrag über eine Schule für Waisenkinder im Norden Balis. Sie ging für mehrere Wochen auf die asiatische Insel, unterrichtete Kinder und bildete Lehrer aus. Deren Ausbildung sei mit unserer nicht vergleichbar, dort werde viel auswendig gelernt. Diese Zeit, in der sie die Geschichten der Kinder, die bei den Schweinen schliefen, im Rinnstein lebten oder ihren Eltern auf den Reisfeldern halfen, zum Guten zu wenden half, habe sie zufriedengestellt wie nichts zuvor. Es relativiere vieles, was man zuhause für wichtig erachte. Nie wird Dr. Wiebke Endres vergessen, wie sie der Vater eines Schülers um 4:30 Uhr mit dem Palmstammboot mit Rasenmähermotor zwei Stunden lang über Korallenriffe fuhr, um Schildkröten zu sehen. Ihre Kleidung ließ sie auf Bali und packte den Koffer voll Mangos.

Hilfseinsatz in Armenien

Ein weiterer Hilfseinsatz führte Dr. Wiebke Endres nach Armenien. Das Treppenhaus der Schule an der aserbeidschanischen Grenze hatte Einschusslöcher, der Holzfußboden wurde verheizt. Noch befremdlicher waren das Gasmasken- und Handgranatentraining. Im „Saal der Helden“ hingen Bilder 15-Jähriger, die in Auseinandersetzungen mit dem Nachbarland starben. „Solches Gedenken führt zu Hass und weiteren Toten“, ist sich die Pädagogin sicher. Kindern sollte jedoch Gelegenheit gegeben werden, die Welt nah und gemeinsam zu erleben.

Ein NASA-Projekt führte Dr. Wiebke Endres nach Huntsville/Alabama. Dort tanzten 104 Lehrkräfte unter der Saturn V-Rakete. Ein chilenischer Lehrer gab in einem Vortrag Einblicke ins Leben der Slumkinder. Raumfahrt bedeutete den Aufbruch zu neuen Welten, findet Dr. Wiebke Endres. Kinder weltweit müssen auf Herausforderungen vorbereitet werden, die wir noch nicht kennen. Sie können mit Stiften und Büchern ihre Zukunft verändern.

Einsatz direkt vor Ort 

Der Sprung in die Gegenwart zeigt die aktuellen Projekte von „Lehrerinnen und Lehrer ohne Grenzen“, bei denen es, analog zu „Ärzte ohne Grenzen“, wichtig ist, sich selbst vor Ort einzusetzen. „Bei uns können sich Jugendliche ab 18 Jahren engagieren. Das ist eine Riesenbereicherung, die eine andere Sichtweise auf eigenes Leben, eigene Ideale und Werte gibt“, ermutigt die Vereinsgründerin. Eine Kollegin fuhr nach Cusco in Peru, wo eine Grundschule unterstützt wird. Dr. Wiebke Endres selbst fährt in den nächsten Sommerferien nach Mombasa. Für das Waisenheim „Little ANgel“ dort konnten Stifte und Schreibblöcke fürs ganze Jahr gekauft werden. Ebenso wurden für die Schule auf Bali Laptops für einen visuellen Lernzugang gefördert. In Togo soll eine Primarschule aufgebaut werden. Dr. Wiebke Endres träum von der Gründung einer Montessori-Schule. In Kamerun wird dringend Geld für neue Sanitäranlagen benötigt, damit niemand krank wird. Ein indigenes Reservat in Kanada möchte neue Unterrichtskontexte konzipieren. „Es begeistert mich immer aufs Neue, wie die Welt zusammenwächst“, sagt die Lehrerin. Die Kinder ihrer 5e, einer naturwissenschaftlichen Schwerpunktklasse, bemalte Eier, die von einem Wilhelmshavener Hotel verkauft werden. Vom Erlös soll die Proteinversorgung Kenias verbessert werden. Der Klassenrat entscheidet demokratisch über weitere Projekte. Die Mitarbeit an derartigen Projekten sei sehr motivierend.

Eine Schachtel mit Ideen

Über Barbara Geiger alias Fräulein Brehm aus Berlin, die in Dr. Wiebke Endres´ Klasse über Regenwürmer sprach, kam ein Projekt in Kamerun hinzu. Dort werden Zweinutzungshühner gezüchtet, die den Menschen Eier und Fleisch bieten. Die duale Berufsschulausbildung der Halter von Hühnern, später auch von Bienen und Schweinen, unterstützt „Lehrerinnen und Lehrer ohne Grenzen“. 600 Tiere seien vorhanden. Neulich gab es ein erstes virtuelles Treffen mit den Kamerunern. Sogar die Zoological Society of  London ist beteiligt.

Auf Dr. Wiebke Endres´ Schreibtisch steht eine Schachtel mit Ideen für Projekte, jedes einzelne toll und wichtig. Im Netzwerk finde Bildung mehr Gehör. Schulen sollten sich weltweit zusammenschließen, um auf Bedürfnisse und Bedarfe aufmerksam zu machen. Gemeinsam müsse an großen globalen Problemen gearbeitet werden. Wie beim Klimawandel solle man alle mitnehmen.

Corona erschwert Begegnungen

Das Engagement für ihren Verein nimmt die Lehrerin mit in den Unterricht. Mit älteren Schülern sei ein Austausch mit Mombasa denkbar. Man erhalte einen anderen Zugang, wenn man dort dreimal täglich Maisbrei esse. Wegen Reisekosten, Unterbringung und derzeit auch Corona seien reale Begegnungen kompliziert. Ein gemeinsames Projekt mit den Kenianern sei die Untersuchung von Wasser- und Sandproben, unterstützt vom Alfred-Wegener-Institut (AWI), auf Salzgehalt und Mikroplastik, und der Nachbau von Kläranalgen.

Drei Kinderbücher hat Dr. Wiebke Endres bereits geschrieben, die Naturwissenschaften erlebbar machen und ebenso zugunsten ihres Vereins verkauft werden. Schließlich hätte sie sich auch vorstellen können, Wissenschaftsjournalistin zu werden, machte ein Praktikum, aber es gab kaum Arbeitsstellen. Wissenschaftskommunikation ist ihr zentrales Anliegen. Promoviert hat sie über die Didaktik der Chemie.

Lehrauftrag an der Universität

Ihr Lehrauftrag an der Car-von-Ossietzky-Universität Oldenburg  bedeutet ihr sehr viel. Dadurch ist Dr. Wiebke Endres nah an neusten Entwicklungen. Das Neue Gymnasium ist als MINT (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften, Technik) Exzellenzschule und Biosphären-Schule Vorbild. MINT solle aus der Uncoolness herausgeholt werden. Es gibt Akademien in Astronomie und Meereskunde für Jahrgang vier bis sechs. Darin geht es darum, wie eine Miesmuschel als „Kläranlage“ des Meeres funktioniert oder Mikroplastik auf den Teller kommt. Nach einer Forschungsakademie auf Helgoland möchte die Lehrerin das Forschungsschiff „Aldebaran“ des AWI nach Wilhelmshaven holen.

Bücher und Zeitschriften

Mit dem MINT-Echo wurde ein Publikationsformat für forschende Jugendliche geschaffen. Da geht es dann um die Wirkung des Gifts des südamerikanischen Krallenfroschs bei Mukoviszidose. Und in der Zeitschrift „Chemie in unserer Zeit“ hat Dr. Wiebke Endres eine Rubrik, in der sie unter anderem über römische „Zahnpasta“ aus Eisen-Gallus-Tinte geschrieben hat. Aktuell schreibt die Wilhelmshavenerin mit einem renommierten Didaktiker für eine Schweizer Zeitschrift. Mit ihren Schülern geht sie oft raus. Sie sehen sich Pflanzen an oder die Milchviehwirtschaft und bekommen authentische Freiräume, aus ihren Beobachtungen Fragen zu entwickeln. Die Lehrerin schreibt auch über andere als naturwissenschaftliche Themen. SO setzte sie sich im Rahmen der Berner Bücherwochen mit der Frage auseinander, was Nein-Sagen bedeutet. Vor einer Fortbildung in Yad Vashem im Herbst schrieb die Pädagogin einen Artikel „Als Ärzte zu Mördern Wurden“ sowie eine Kurzgeschichte über Euthanasieärztin Dr. Elisabeth Hecker. Mit älteren Schülern und Historiker Ingo Harms forschte die Lehrerin zur Geschichte der Euthanasie im Nordwesten. Dabei sahen sich die Jugendlichen freiwillig alte Akten an, wie sie berichtet. Dies sei gelebte Bürgerschaft  und vermittle eine Bildung, die so offen sei, dass sie als Erwachsene später kritisch reflektierten.

Musik senkt den Stresslevel

Ausgleich findet Dr. Wiebke Endres beim Klavierspiel, an dem sie stets ihren Stresslevel merken kann. Ludovico Einaudis „Dolce Droga“ mag Kaninchen Kasi am liebsten. Vom zweiten Lebensjahr bis ins Studium begleitete Dr. Wiebe Endres ein Familienhund. Dafür fehle ihr heute leider die Zeit. Diese verbringt sie gern bei ihrer Familie am Bodensee, in Dänemark, wo sie seit ihrem zweiten Lebensjahr stehts in den gleichen Ort fährt, oder im Urlaub auf Hallig Gröde mit sieben Menschen und 48 Schafen. Auf die Halligen kam sie im Klimahaus Bremerhaven, wo Langeneß ausgestellt ist. Dort war aber alles ausgebucht. Aus ihrem Zwölf-Stunden-Alltag kam sie auf Gröde an und genoss selbstgemachten Queller-Quark.

Quelle: Sonntagsblatt Wilhelmshaven vom 10.04.2022, Autor: Henning Karasch